Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie und Medienästhetik: Customizing. Konfigurationen medialer Anpassung (Zürich)
Eine der Grundannahmen medienphilosophischen und medienästhetischen Denkens fasst Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz in der These zusammen, dass »die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt« - nicht nur »natürlich«, d.h. physiologisch, sondern auch historisch bedingt ist Medienphilosophie und Medienästhetik ist es demzufolge aufgegeben, den “Wandel der Wahrnehmungsweise” zu beschreiben, der sich aus dem Wechselverhältnis zwischen (Medien-)Techniken und Wahrnehmung ergibt. Mit dem Eintreffen und der schnellen Verbreitung generativer KI kündigt sich ein solcher Wandel an, der sich bereits seit längerer Zeit anbahnt, aber jetzt an einem Punkt angelangt ist, der wie einstmals Fotografie, Film und Massenmedien neue Beschreibungskonzepte erfordert. In dieser neuen Medienumgebung erscheint der Mensch nicht länger als homo faber, sondern vielmehr als homo curans, der – ausgerichtet am Prinzip des curans (lat. Arzt; jemand der behandelt) – einen neuen Bedeutungshorizont aufspannt, in dem sich Auswählen und Beurteilen mit (Selbst)-Sorge (care) überschneiden. Der Mensch produziert (entwirft, modelliert, baut usw.) nicht mehr, sondern umsorgt, verbessert, behandelt, tweakt und wählt aus dem, was die KI produziert. Damit wird Handlung zu Be-Handlung - auch des eigenen Selbst.
Zu diesem Wandlungsprozess in Ästhetik, Agency, Medienlandschaft, Produktionsmitteln und Subjektposition gehört das Phänomen der customisation (Maßanfertigung), das noch nicht zu einem kultur- und medientheoretischen Begriff geworden ist. Das Jahrbuch möchte dies ändern, indem das Konzept des Customizing medienphilosophisch und -ästhetisch in den Blick genommen werden soll. Das Wort stammt ursprünglich aus dem Schneiderhandwerk und bezeichnet die Anpassung eines zumeist handgefertigten Kleidungsstücks an die individuellen Wünsche, anatomischen Gegebenheiten und Erfordernisse einzelner Kund*innen (Customer). Historisch ehemals der Normalfall, wurde die Maßanfertigung im Zuge der industriellen Massenproduktion zu einer Luxusdienstleistung. Heute ist dieses Konzept in westlich geprägten Medienkulturen wieder allgegenwärtig, durchdringt alle Lebensbereiche und gehört zum Kernbestand des digitalen Kapitalismus. Dies geht mit einem weiteren kapitalistischen Marketingprinzip einher, der sogenannten Personalisierung. Während die Personalisierung eines Produkts oder einer Dienstleistung die automatische Anpassung an Bedürfnisse, Präferenzen oder Verhaltensmuster bezeichnet – errechnet und modelliert aus vergangenen Userdaten –, bezieht sich Customization auf die aktive Beteiligung (und „freiwillige Mitarbeit“, Terranova 2000) der User an der Anpassung. Beide Dynamiken greifen ineinander und differenzieren auf diese Weise die Schnittstelle zwischen Unternehmen, Medien und User modular aus (Bruns 2010). User können Interfaces, Apps oder Dienste an die eigenen Bedürfnisse und Wünsche anpassen. Dies ist jedoch nur eine Seite des Januskopfes, dessen Korrelat in der algorithmischen Individualanpassung der Inhalte und Informationen besteht, die Suchmaschinen und Apps noch zu sehen erlauben. Eine Einheit von gefühlter Selbstermächtigung und daraus resultierender gleichzeitiger Verengung des Horizonts ist zu beobachten, oder zugespitzt: eine dramatische Zunahme selbstverschuldeter Unmündigkeit, die sich dabei wie eine ständige Selbstbestätigung anfühlt.
Auf das Konsumverhalten des Einzelnen abgestimmte Werbung stand hierbei am Anfang. Aufgrund präskriptiver Strategien der Formatierung, die auch die situativen Praktiken des Formatierens umfassen, machen es medienindustrielle Formate wie “TikTok” und “Youtube” ebenso wie “X” oder "Instagram" schwer, überhaupt noch Inhalte wahrzunehmen, die nicht exakt den eigenen Interessen, Weltbildern und Meinungen entsprechen (Volmar 2020). Dabei gilt: Je mehr Daten geliefert werden, desto eher bestimmen diese die Erfahrung und Realität der User (Amoore und Raley 2017). Die Konfrontation mit Optionen außerhalb einer bestimmten Passgenauigkeit auf die eigenen Vorurteile und Wünsche kann automatisch oder mit einem Swipe aus der Welt geschafft werden. Alteritätsvermeidung wird so schnell zu Alteritäsverweigerung und Alteritätsangst; das eigentlich zunächst positiv konnotierte Customizing droht sich so zu einer Tyrannei des individuellen Spleens auszuweiten. Der medientheoretische Verdacht der 70er und 80er Jahre im Hinblick auf eine medieninduzierte “Agonie des Realen”(Baudrillard 1978) scheint in einer Zeit, in der sich das Reale etwa in Form des Klimakollapses mit aller Macht zurückmeldet, durch eine “Agonie des Sozialen” und eine Erosion des sensus communis noch überboten zu werden. Die politischen Folgen sind inzwischen unübersehbar: Trump-Ralleys etc. sind zum Beispiel eigentlich keine Wahlveranstaltungen sondern social media events, in denen Wähler und Fans als Staffage für content herhalten müssen. Gesprochen wird vor allem über andere, nicht miteinander, und zwar so, dass dieser gezielt inhaltslose content den Wünschen und Neigungen individueller social-media Nutzer möglichst leicht algorithmisch portioniert zugeführt werden kann. Jürgen Habermas hat unlängst konstatiert, dass die Logik von social media sich als Gegenteil deliberativen kommunikativen Handelns erwiesen hat, indem der argumentative Austausch durch das Aneinander-Vorbei-Reden solipsistischer Individualpositionen ersetzt wird (Habermas 2022). Geschult ist diese Haltung an einer Medienlandschaft, die nicht mehr durch polyphone Öffentlichkeit - und damit einem Aushalten des möglicherweise widerständigen Anderen -, sondern durch sorgfältig kuratierte “Hyperindividualität” geprägt ist.
Andererseits kann die Möglichkeit zu individueller medialer Anpassung oder Transindividualität auch als Mittel zur Korrektur von Normierung und Normalisierung genutzt werden und gewinnt damit eine kritische Komponente. Insbesondere im Hinblick auf Wieder-Aneignungsprozesse, Reterritorialisierung, Plattformübernahmen (cf. Terranova 2004), Politiken morphologischer Freiheit oder Praktiken des „undoing data“ (Floridi und Taddeo 2016), das u.a. mit und in den Beiträgen zu diesem Band betrachtet werden sollen, liegt emanzipatorisches Potential. Aber in welchem Verhältnis steht dieses emanzipatorische Potential von Hyperindividualität etwa zur “Rettung des Singulären” und “Nichtidentischen” (Jaeggi 2015)? Auf einer ganz anderen Ebene verspricht KI-gestützte Personalisierung etwa in der Medizin Quantensprünge zum Beispiel im Bereich der Krebsbehandlung oder Demenzvorsorge auf der Grundlage genetisch maßgeschneiderter Therapien.
Im Jahrbuch soll somit in alle Richtungen vor allem nach möglichen ästhetischen, epistemologischen, subjektphilosophischen, medienphilosophischen, sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen medialer Anpassung gefragt werden. Daraus ergeben sich u.,a. folgende Themenfelder und Fragestellungen:
- Das Paradigma der Massenmedien neigt sich dem Ende und mündet in eine Ära dezentral vernetzter Medien. Was heißt in diesem Fall “Medien/Medialität”? Während Massenmedien eine zentralisierte Kommunikation voraussetzten, ermöglichen vernetzte Medien vielfältige dezentrale Austauschformate und personalisierte Erfahrungen. Welche Formen von Interaktion, Wahrnehmung und ästhetischer Produktion ergeben sich daraus? Ist Medialität noch als einheitliches Konzept greifbar, oder verschiebt sie sich zu einem dynamischen Netzwerk von Prozessen, die fortwährend neu verhandelt werden?
- Der Begriff „Customizing“ entstammt ursprünglich dem Schneiderhandwerk und verweist auf Maßanfertigung. In Bezug auf digitale Medien erweitert sich die Bedeutung hin zur Herstellung von „Angemessenheit“, „Passgenauigkeit“ oder “Passung” (Harrasser 2009). Der deutsche Begriff „Anpassung“ bringt eine interessante Dialektik ins Spiel: Einerseits verweist er auf die Lust und den Luxus der Individualisierung oder Anschmiegsamkeit, andererseits schwingt die Idee der Normierung und Disziplinierung mit (Hennion 2017). Diese Ambivalenz ist terminologisch zentral, während deutsche Übersetzungen wie „Individualisierung“ oder „Personalisierung“ unspezifischer und durch philosophische Traditionen (z. B. bei Kant oder Adorno) bereits aufgeladen erscheinen.
- Welche Auswirkungen hat eine zunehmende Data Customization als individuelle Anpassung von Daten und Informationen an die (sich ebenfalls anzupassenden) spezifischen Bedürfnisse, Präferenzen oder Profile von Nutzer*innen, oft gesteuert durch Algorithmen und personalisierte Systeme.
- Ästhetiken der Anpassung: Stehen “neue” ästhetischen Kategorien (cute, zany, etc. -> Sianne Ngai) hiermit in einem Zusammenhang? Wie sieht es mit einer “Ästhetik der Sorge” aus?
- Wie sähe eine Ästhetik des individuell Angenehmen aus, eine Kategorie, die aus der klassischen Ästhetik seit Baumgarten und Kant gerade ausgeschlossen wurde? Steht also die Kantische Grundthese vom ästhetischen Urteil als eines auf die Zustimmung des Anderen angewiesenen gemeinschaftsbildenden Vorgangs auf dem Spiel, da es sich hier nur noch um Kategorien des individuell Angenehmen handelt? Handelt es sich um eine Entwöhnung von den “Zumutungen” von Alterität oder ließe sich der so erodierte sensus communis in irgendeiner Form medienästhetisch rehabilitieren?
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Literatur
Amoore, Louise, und Rita Raley. 2017. „Securing with algorithms: Knowledge, decision, sovereignty“. Security Dialogue. Special Issue: Securing with algorithms 48 (1): 3–10.
Beer, David. 2019. The Data Gaze. London: SAGE Publications.
Bruns, Axel. 2010. Vom Prosumenten zum Produtzer. In: Blättel-Mink, B., Hellmann, KU. (eds) Prosumer Revisited. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91998-0_10
Dijck, Jose van. 2013. The Culture of Connectivity: A Critical History of Social Media. Oxford University Press.
Floridi, Luciano, und Mariarosaria Taddeo. 2016. „What is data ethics?“ Philosophical transactions. Series A, Mathematical, physical, and engineering sciences 374 (2083). https://doi.org/10.1098/rsta.2016.0360.
Harrasser, Karin (2009): Passung durch Rückkopplung. Konzepte der Selbstregulierung in der Prothetik des Ersten Weltkriegs. Informatik 2009 – Im Focus das Leben. Bonn: Gesellschaft für Informatik e. V.. PISSN: 1617-5468. pp. 57-57.
Hennion, Antoine. 2017. “Attachments, You Say? … How a Concept Collectively Emerges in One Research Group.” Journal of Cultural Economy 10 (1): 112–21. ttps://doi.org/10.1080/17530350.2016.1260629.
Terranova, Tiziana. 2000. „Free Labor: Producing Culture for the Digital Economy“. Social Text 63 (18.2): 35–58.
Volmar, Axel. 2020. „Das Format als medienindustriell motivierte Form. Überlegungen zu einem medienkulturwissenschaftlichen Formatbegriff“. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12(1), 19-30. https://doi.org/10.25969/MEDIAREP/13641