Colloques en ligne

Barbara Agnese

Sprache und Erinnerung bei Jean Améry und Primo Levi1

Ein Fremder hat immer

Seine Heimat im Arm

Wie eine Waise

Für die er vielleicht nichts

Als ein Grab sucht

Nelly Sachs

1Zum Thema „Erinnerung“ und insbesondere zum Thema „das Eigene Erinnern“ werde ich vor allem von zwei Werken ausgehen: Jean Amérys Jenseits von Schuld und Sühne (1966) und Primo Levis Ist das ein Mensch? (1947). Fokussiert werden, genauer gesagt, einige bekannte Passagen aus diesen Werken, in denen die Konstellation Erinnerung und Sprache deutlich zutage tritt und einige Überlegungen ermöglichen kann.

2Wie bekannt handelt es sich bei den beiden Autoren nicht nur um die Erinnerung zweier Überlebender der Shoah, sondern auch um zwei Auschwitz-Überlebende, die durch ihre Arbeit, ihre Schriften, ihre Prosa der „Ethik der Erinnerung“ eine bedeutende Stimme verliehen haben.2 Insofern eröffnen sich hier zahlreiche und komplexe Interpretationswege und Verständnisperspektiven, die von der Erinnerung traumatischer Ereignisse, dem psychologischen Bedürfnis zu erzählen, der „Scham des Überlebens“3 bis hin zum „gesunden Vergessen“ der Opfer reichen.

3Ich möchte mich jedoch auf ein Element beschränken, auf jenes „Eigene“, das auch eine direkte, unvermeidliche Verbindung mit der Sprache hat.

4Wieviel Heimat braucht der Mensch? Fragte sich Améry. Sicherlich kann „Heimat“ – ein deutsches Wort, das so schwierig in andere Sprachen zu übersetzen ist, dessen Nuancen z.B. im französischen Wort „patrie“ oder im englischen „country“ verloren gehen – mit zahlreichen Elementen in Verbindung gebracht werden, aber, wie Irene Heidelberger-Leonard pointiert resümiert: „Was bedeutet Heimat nämlich? Auf ihren Grundgehalt reduziert bedeutet sie Sicherheit“.4 „[…] So wie man die Muttersprache erlernt, ohne ihre Grammatik zu kennen, so erfährt man die heimische Umwelt. Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zu Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt. […]“.5

5„Und Sicherheit ist nur da gegeben, wo man die Signale kennt und erkennt, wo man dem Bekannten traut und vertraut“,6 nur, plötzlich erweisen sich manche Signale nicht nur als zweideutig, sondern auch als höchst gefährlich; Améry, noch auf seine Zeit im belgischen Widerstand hinweisend, erzählt von dem Versteck, in dem er und seine Gruppe Flugblätter herstellten. Deutsche Soldaten wohnten im selben Haus und eines Tages, von den „Hantierungen“ der jungen Leuten gestört, klopfte ein Mann in Uniform an die Tür und

verlangte nur brüllend Ruhe für sich und seinen vom Nachtdienst ermüdeten Kameraden. Er stellte seine Forderung – und dies war für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner eigenen Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn der Kerl, der mir in diesem Augenblick zwar nicht gerade ans Leben wollte, dessen freudig erfüllte Aufgabe es aber war, meinesgleichen in möglichst großer Menge einem Todeslager zuzuführen, erschein mir plötzlich als ein potenzieller Kamerad. […] In diesem Augenblick begriff ich ganz und für immer, daß die Heimat Feindesland war und der gute Kamerad von der Feindheimat hergesandt, mich aus der Welt zu schaffen.7

6Das Bewusstsein eines endgültigen Verlustes ist für den Exilierten bereits vor Auschwitz da: die Heimat ist zu Feindesland und Feindheimat geworden. Später, im Konzentrationslager, wird für nicht deutschsprachige Häftlinge die Kenntnis der deutschen Sprache im allgemein oft das Leben oder den Tod bedeuten.

Der größte Teil der Gefangenen, die des Deutschen nicht mächtig waren, und das traf fast alle Italiener zu, starb innerhalb der ersten zehn bis fünfzehn Tage nach der Ankunft: auf den ersten Blick wegen Hunger, Kälte, Erschöpfung, Krankheit; aber bei genauerem Hinsehen wegen unzureichender Information.8

7Amérys Muttersprache, die er mit dem „potenziellen Kamerad“ gemeinsam hat, wird jedoch bald auch zur Mördersprache werden und wird es auch „danach“ bleiben, in den „Frieden“ hinein, als vollendete und endgültige Zerstörung der Heimat, als „erzwungener Heimatverlust“, der mit der „systematischen Demontierung von all dem, was einen von Kindheit an konstituiert hat“ einhergeht. „Dazu gehört vor allem die Muttersprache, die sich in Mördersprache verwandelt hat.“9

8„Was aber wäre Joyce ohne Dublin, Joseph Roth ohne Wien, Proust ohne Illiers? […] Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland“ schreibt Améry.10 In den folgenden, in der „Normalität“ des Friedens geschriebenen Erinnerungen, die ein Bruchstück Realität erzählen, geht es um eine Heimat, die Sprache, Tradition, Literatur, die man das Eigene, die Identität nennen kann.

9Viele kennen das Kapitel Der Gesang des Odysseus aus Levis Ist das ein Mensch?, in dem von einer besonderen Begegnung erzählt wird, einem Ausnahmefall im „univers concentractionnaire“: Suppenholen gehen, gemeinsam mit jemandem, mit dem man sich verständigen kann.11

10Ein junger Italiener und ein noch jüngerer Franzose dürfen eine Stunde lang frei reden; der Franzose möchte Italienisch lernen; dem Italiener, „wer weiß wie und weshalb“, kommt zu diesem Zweck Dantes Göttliche Komödie in den Sinn, der 26. Gesang aus dem Inferno, den man in der Schule „den Gesang des Odysseus“ (il canto di Ulisse) nennt.12

11Dante, der „Vater“ der italienischen Sprache, die entfernte Heimat, sein Gymnasium, fallen zusammen, während Levi versucht, sich an die Verse zu erinnern, an den Rhythmus, und dadurch kommen ihm unerwartet auch bisher ungeahnte Bedeutungen zum Bewusstsein.

Ich begab mich auf die hohe, offene See

(Ma misi me per l’alto mare aperto)

Ja, hier bin ich ganz sicher, das kann ich Jean erklären […] warum „misi me“ nicht dasselbe ist wie „je me mis“, daß es viel stärker und viel wagemutiger ist, eine zersprengte Fessel, ein Sichhinüberwerfen auf die andere Seite der Barriere13

12Odysseus’ fataler Drang nach Westen, sein Trieb zu wissen, was es „­Über die Säulen des Herkules hinaus“ gibt, wird von Levi gerade durch die Übertragung ins Französische für den Freund noch tiefer verstanden:

Einen Vers nur habe ich gerettet

„Damit der Mensch nicht weiter sich begebe“

(Acciuò che l’uom più oltre non si metta)

„Si metta“ [sich begebe]. Mußte ich ins Lager kommen, um zu erkennen, daß es derselbe Ausdruck ist wie vorhin: „ich begab mich“, „e misi me“14

13Indem er aus der Muttersprache Fragmente des auswendig Gelernten unter Zeitdruck übersetzt, gewinnt Levi für kurze Zeit einen Stück „Heimat“ wieder. „Levis Dante ist ein Gedächtnistalisman“15 der zugleich sein Verständnis schärfer macht, denn die umgebende Realität hat den Worten Kraft und vor allem Bedeutung verliehen

Ich habe es eilig, ich habe es furchtbar eilig.

Jetzt merk auf, Pikkolo, öffne die Ohren und den Verstand, es kommt mir so darauf an, daß du begreifst

[…]

„Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere,

nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten“

(Fatti non foste a viver come bruti,

ma per seguir virtute e conoscenza)

Als hörte ich das selbst zum erstenmal: Wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme.16

14Diese Erinnerungen – schrieb Levi viele Jahre später in Die Untergegangenen und die Geretteten (1986) – „ermöglichten es mir, eine Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen, retteten sie vor dem Vergessen und stärkten meine eigene Identität. Sie überzeugten mich davon, daß mein Verstand, obwohl er durch die täglichen Bedürfnisse eingeengt war, nicht aufgehört hatte zu funktionieren “17.

15 Was für Levi Dante ist, d.h. die italienische literarische Tradition, findet bei Améry in der deutschen Literatur und Philosophie seine Entsprechung. In „An den Grenzen des Geistes“, dem ersten Essay in Jenseits von Schuld und Sühne (erste Auflage 1966) führt Améry einige Beispiele aus, die für ihn als Beweise gelten für das, was er „unerlaubten Luxus“ nennt,18 denn im Lager ein Intellektueller zu sein, war eine „ungute Lage“;19 mit Levi formuliert: „Vernunft, Kunst, Dichtung helfen nicht, den Ort zu dechiffrieren, aus dem sie verbannt sind“.20

Ich erinnere mich eines Winterabends, als wir uns nach der Arbeit im schlechten Gleichschritt unter dem entnervenden „links zwei, drei, vier“ der Kapos vom IG-Farben-Gelände ins Lager zurückschleppten und mir an einem halbfertigen Bau eine aus Gott weiß welchem Grunde davor wehende Fahne auffiel. „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“ murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlin-Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage.21

16Die Stimmung, die die zweite Strophe von Hölderlins bekanntem Gedicht Hälfte des Lebens durchdringt,

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehen

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen

17und zwar die winterliche Atmosphäre, die Disharmonie und die Bewegungslosigkeit, die der sommerlichen Erfüllung und Harmonie der ersten Strophe folgen, sind nun reine „sachliche Aussage“ geworden; „[…]…wäre da ein annähernd gleichartig gestimmter Kamerad gewesen“, schreibt Améry, „dem ich die Strophe hätte zitieren können. Das Schlimmste war, daß man den guten Kameraden nicht hatte…“22

18So wie in der Psychoanalyse, in der – damit die Reexternalisierung des Erlebnisses stattfinden kann23 – die traumatische Erfahrung sprachlich formuliert und einer anderen Person übermittelt werden muss, bedarf auch das Eigene einem Anderen, einem Gegenüber.

19Alles, was für den österreichischen Philosophen24 Améry früher zählte, hat seine Bedeutung verloren

Wie die Gedichtstrophe von den sprachlos stehenden Mauern und den im Winde klirrenden Fahnen verloren auch die philosophischen Aussagen ihre Transzendenz und wurden vor uns teils zu sachlichen Feststellungen, teils zu ödem Geplapper: Wo sie etwas meinten, erschienen sie trivial, und wo sie nicht trivial waren, dort meinten sie nichts mehr.25

20In einer anderen Situation und zwar – wie Levi im Améry gewidmeten Kapitel VI aus Die Untergegangenen und die Geretteten bemerkt – „im Krankenbau nachdem er [Améry] eine zusätzliche Portion Suppe gegessen hatte, in einem Zustand also, da der Hunger nicht so quälend war wie sonst“26 kann Améry nicht umhin, auch nur einen Augenblick lang, eine Verbindung mit dem hochgeschätzten Thomas Mann herzustellen:

[…] ich denke daran, wie mir einmal ein Pfleger des Krankenbaues einen Teller mit gesüßtem Gries schenkte, den ich gierig verschlang, wobei ich in den Zustand einer außerordentlichen geistigen Euphorie geriet. Mit tiefer Ergriffenheit dachte ich zunächst an das Phänomen der menschlichen Güte. Daran kettete sich die Vorstellung des wackeren Joachim Ziemßen aus dem „Zauberberg“ Thomas Manns.27

21Trotzdem scheinen Améry und Levi, beide assimilierte Juden, sich in bezug auf das Eigene in zwei unterschiedlichen Lagen zu befinden. Der springende Punkt ist natürlich nicht nur das Fehlen eines Zwiegesprächs bei Améry, sondern die Tatsache, dass für Améry die Erniedrigung und die Beraubung des Eigenen auch die eigene Sprache betrifft.

22Plötzlich ist der Philosoph und Philologe Améry ein „Fremder im eigenen Land“28 d.h. in der eigenen Sprache, geworden.

Das Leiden des Intellektuellen war in diesem Fall also ein anderes als das eines ungebildeten Ausländers: für diesen war das Lagerdeutsch eine Sprache, die er nicht verstand, was lebensgefährlich sein konnte; für jenen war es ein barbarischer Jargon, den er zwar verstand, der ihm aber die Lippen häutete beim Versuch, ihn zu sprechen.29

23Wie Levi bald versteht, bestand zwischen dem Lagerdeutsch und der melodiösen, subtilen Sprache der Gedichte Heinrich Heines (die ihm Clara, eine Studienkollegin, in Turin rezitiert hatte)30 eine nur sehr entfernte Verwandtschaft. Améry leidet jedoch nicht nur wegen der Verstümmelung der Sprache, sondern vielmehr weil ihm die eigene Tradition und somit die eigene Identität abhanden kommt. Man könnte hier von geistiger Enteignung sprechen.

24Die „Zugehörigkeit zu den Juden“, wie Ruth Klüger es nennt,31 haben beide Autoren erst durch Auschwitz „entdeckt“; das Eigene, die eigene Tradition liegt woanders, wie Levi über Améry schreibt:

Wer nicht in die jüdische Tradition hineingeboren ist, ist kein Jude und kann es auch nur unter Schwierigkeiten werden: Tradition, das sagt das Wort selbst, wird ererbt. Sie entsteht im Lauf von Jahrhunderten […] Und doch braucht man zum Leben eine Identität, das heißt eine Würde. […] Nun wird ihm [Améry] wie vielen anderen deutschen Juden, die, wie er, an die deutsche Kultur glaubten, die deutsche Identität abgesprochen.32

25Die Rückkehr in die Sprache scheint für Levi eine Rückkehr in die Heimat, in das Eigene, in die Identität bedeuten zu können, wie W. G. Sebald in seinem Artikel „Jean Améry und Primo Levi“ schreibt:

Jedenfalls war es für Levi gewissermaßen eine natürliche Sache, nach seiner Odyssee nach Turin, nachhause zurückzukehren. Für Améry ist eine derartige Rückkehr nach Wien oder Salzburg ausgeschlossen gewesen. Die Zerstörung der Heimat war ein Thema, über das Améry viel nachzudenken hatte, Levi hingegen nicht.33

26Für  Hans Mayer (der unter dem Pseudonym Jean Améry schreibt) wird die« Remigration »  zur Unmöglichkeit, es „bleibt allein das ‚immerwährende Schriftsteller-Exil‘“34, in dem er ab sofort, knapp drei Monate nach seiner Befreiung, zur Sprache kommt und keine „fiktionale“ Arbeit abschließt, sondern eine Studie, in der er – 20 Jahre vor Jenseits von Schuld und Sühne – die Psychologie des deutschen Volkes unters Mikroskop nimmt.35 „Und was bedeutet es, in einer Sprache zu sprechen, die als Rest existiert?“36

27Ist das Eigene Erinnern für Jean Améry ein Zwiegespräch ohne Partner? Sebald und Heidelberger-Leonard unterstreichen die Unzulänglichkeit der deutschen Nachkriegsliteratur, „dem Geschehenen adäquate Fragen“ zu stellen und ihre, mit wenigen Ausnahmen, „konstitutionell gewordene Unfähigkeit, die Wahrheit zu sagen oder ihr auf den Grund kommen zu wollen“.37

28Wenn Amérys Stelle in der Öffentlichkeit diejenige eines unbequemen intransigenten Denkers war, der solche Fragen immer wieder in verschiedenen Formen gestellt hat und die eigene Erinnerung an Dinge, die per analogiam nicht vollkommen zu verstehen sind,38 essayistisch eingesetzt hat, so wurde Levis Erzählen – nach einem schwierigen Anfang – anders und konsensfähiger empfangen, auch in Deutschland. „Ich kann verstehen“ schreibt Améry in einem Brief,

daß Sie Primo Levis Buch, das auch ich sehr hoch schätze, mehr ansprach als das meine. Levis größere Bereitschaft zur Versöhnung mag wohl darin gründen, daß er Italiener ist, den die Haft und alles dazugehörige in gewissen Schichten überhaupt nicht betraf, während mein eigener Bildungshintergrund ein deutscher ist. Um es ganz grob und populär zu sagen: Ein Wirthaus, in das wir gar nicht gehen wollen, ist, wenn es uns den Eintritt verbietet, für uns uninteressant; wo es sich aber um unser Stammbeisel handelt und der Wirt uns hinauswirft, bringen wir nicht die gleiche Distanz auf.39

29Das einzig Mögliche bleibt die Erinnerung, die Arbeit mit der Sprache, an der Sprache und dadurch an sich selbst; da draußen steht die Öffentlichkeit, die Welt, die diese Arbeit rezipiert, missversteht, vereinnahmt oder nicht rezipiert: Vor diesem Hintergrund bewegen sich die Zeugen, die Opfer, mit der Sprache, die sie haben, mit ihrem Ressentiment, ihrer Distanz und ihrer Scham.

30Wie Levi es sich gewünscht hatte, gelang es ihm mit seinem letzten, 1986 erschienen Buch I sommersi e i salvati (Die Untergegangenen und die Geretteten),mit seinem Kapitel „Un intellettuale ad Auschwitz“, in dem mit dem „potentiellen Freund“ und „bevorzugten Gesprächspartner“ Améry posthum „diskutiert“ wird, diesen einem größeren italienischen Publikum vorzustellen: in der italienischen Übersetzung, die 1987 erschienen ist, trägt der Gesamtband Jenseits von Schuld und Sühne den Titel Intellettuale ad Auschwitz.40 Diesen Intellektuellen, Améry, definiert Claudio Magris nicht zufällig als „eines der letzten Beispiele eines Intellektuellen, der sich organisch in der Gesellschaft nicht integrieren wollte und trotzdem sich, wenn auch skeptisch, wünschte, die Gesellschaft zu ändern“.41

31Fast acht Jahren nach Amérys Freitod (1978) hat also der „integriertere“ Levi Die Untergegangenen und die Geretteten publiziert und damit versucht, den Themen seiner eigenen Romane und Erzählungen essayistisch nachzugehen. Auch in seiner Auseinandersetzung mit Améry versucht er immer noch, dem Pessimismus eine positive Seite entgegenzusetzen, und dennoch: die Frage, ob Levi nur an der Oberfläche ein „versöhnlicher“, „optimistischer“ Zeuge und Autor war, wurde von vielen gestellt. Ein Leben lang versuchte er mit feinen Distanzierungen zu berichten,42 und so die Destruktivität und die Selbstdestruktivität eines Selbstmordes von sich fernzuhalten; in seinem letzten Buch weicht die Distanz jedoch oft dem Krampf, der Konvulsion.

32Die Untergegangegen und die Geretteten ist das erste und letzte kaustische Buch Levis“ schreibt Cynthia Ozick, die es als eine „Abschiedsbotschaft“ sieht.

Und was ist denn mit den vorhergehenden Werken? Was ist denn aus ihrer luziden Gelassenheit, aus ihrer Hasslosigkeit, aus ihrer souveränen Ruhe, aus ihrer affektfreien Distanz geworden? Die Leser haben Levis Tonfall oft missverstanden, bis jetzt zumindest. Die Untergegangenen und die Geretteten läßt uns glauben, daß eine vierzig Jahre lange Zurückhaltung möglich gewesen sei, weil er an einer erhabenen idée fixe festgehalten hatte, einem Selbstbetrug vielleicht: der Vorstellung, wie ein zivilisierter Mensch sich zu verhalten habe, wenn er über die unmenschlichsten Greueltaten berichtet. Das Resultat ist der Konsens der ganzen Welt gewesen: ein Mensch, in gewisser Hinsicht völlig losgelöst von Rachegefühlen.43

33Dieser Abschiedsbotschaft hat der Autor ein Motto vorangestellt, das schon für seine Gedichtsammlung Ad ora incerta (1984) von Bedeutung war

Since then, at an uncertain hour,

That agony returns:

And till my ghastly tale is told

This heart within me burns

S. T. Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner, vv. 582-85

341987, ein Jahr nach dem Erscheinen von I sommersi e i salvati, begeht auch der „Optimist“ Levi Selbstmord und stürzt sich in den Treppenschacht seines Hauses, in seiner vertrauten Heimatstadt Turin. Ein Schock für alle seine Leser, die sich alle dieselbe Frage stellten, eine Frage, die unbeantwortet bleiben wird.44 Und dennoch, dieses immer wiederkehrende Leid,“ that agony“, das sich kein Gehör verschaffen kann, hat Cornelia Edvardson versucht, in einem Satz zu erfassen: „Wir, die Überlebenden haben unser Heimatrecht im Leben verloren.“45

35Barbara Agnese

36(Université de Vienne)