Questions de société

"Bologna : Idee und Wirklichkeit", par H. Schmoll, Frankfurter Allgemeine Zeitung (19/06/09)

Publié le par Bérenger Boulay (Source : SLU)

"Bologna : Idee und Wirklichkeit", par Heike Schmoll, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19 juin 2009

19. Juni 2009Als die europäischen Bildungsminister sich vor zehn Jahren an einer deralten europäischen Universitäten, in Bologna, über einen europäischenHochschulraum und ein gestuftes Studiensystem verständigten, konntensie nicht ahnen, dass sie damit die Idee der europäischen Universitätbegraben würden. Im Text der Bologna-Erklärung war nur vonVergleichbarkeit und Kompatibilität der Abschlüsse die Rede. Doch inBerlin, wo man bisweilen gern den europäischen Musterknaben spielt,wurde daraus die fixe Idee, es ginge um einheitliche Abschlüsse. Wiekonnte ein solcher Konformitätsdruck widerstandslos hingenommen werden ?

Die Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahrehatte die Unzufriedenheit mit der selbstverwalteten Massenuniversitätschon lange verschärft : überfüllte Seminare und Vorlesungen vor allemin den Geisteswissenschaften, viele Langzeitstudenten, die nie zum Endekamen, und zu viele Studienabbrecher. Die mit Bologna eingeleitetenHochschulreformen wiesen jedoch nicht den Ausweg aus der Krise. Sieerscheinen bis heute eher als deren Ausdruck.

Die Studienstrukturreform nach Bologna ist eine schlechte Kopieangelsächsischer Systeme. Zwei ihrer entscheidenden Ziele sind nichterreicht worden: eine größere Mobilität der Studenten sowie dieinternationale Anerkennungsfähigkeit der Abschlüsse. Stattdessen blühtder Provinzialismus. Schon Studienanfänger werden darauf getrimmt,Punkte zählend von Pflichtveranstaltung zu Pflichtveranstaltung zueilen. Für Studienortwechsel oder Auslandsaufenthalte bleibt so wenigZeit wie zum Nachdenken. Für Studenten heißt die neueBologna-Wirklichkeit: Zielstrebigkeit ohne Umwege und Sackgassen.Neugier, Erkenntnisinteresse, selbständiges Denken - also alles, washöhere Bildung ausmacht - bleiben auf der Strecke.

Mit der Ideeder europäischen Universität war ursprünglich keine Institution,sondern eine eigene Lebensform verbunden. Die Mantras derBologna-Studiengänge klingen jedoch ganz anders: schnell, straff,praxisbezogen und interdisziplinär. An die Stelle vonErkenntnisprozessen mit ungewissem Ausgang sind Berufsorientierung undReproduktion getreten, die sich in einem uniformierten Einheitsenglischausdrücken und damit Internationalität vorgaukeln.

Wer nach dem Studium durch die Segnungen der Exzellenzinitiative inden Genuss einer Nachwuchsförderung gelangt, soll lehren, forschen undtrotz eigener Unerfahrenheit eine Doktorandengruppe leiten. Nichtselten hangeln sich junge Wissenschaftler inzwischen vonDrittmittelprojekt zu Drittmittelprojekt und kommen darüber in dieJahre. In einem System, das die Anzahl der eingeworbenen Drittmittel zueinem Qualitätskriterium erhebt, wird derjenige zum Versager, der ihrernicht bedarf. So sagt die Höhe der eingeworbenen Drittmittel inzwischenmehr über die wissenschaftliche Qualifikation eines Hochschullehrersaus als ein von ihm verfasstes „zweites Buch“ (Habilitation).

Hierwerden die Prioritäten der sogenannten Wissensgesellschaft inerschreckender Weise sichtbar. Es sind nicht mehrBildungsvorstellungen, die bei der Auswahl des Wissens und der Stoffeentscheiden, sondern vermeintliche Wettbewerbsvorteile. Das Studierenunterschied sich bisher vom schulischen Lernen durch größereSelbständigkeit, aber auch dadurch, dass es den Lernenden ein höheresAbstraktions- und Theorieniveau abverlangte. An die Stelle desStudierens ist der „workload“, die erwartete Arbeitsleistung desStudenten, getreten.

Es liegt in der Logik von Bologna, dass auchfür die Lehrleistung eigene Maßstäbe entwickelt wurden. Gemessen werdenWeiterbildung, Forschung und Zukunftsentwicklung, Prüfungen undStudienabschlüsse, Studentenzahlen, die Einhaltung vonRegelstudienzeiten, drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte, derFrauenanteil unter den Hochschullehrern, Auslandsaufenthalte undStudienabschlüsse von Frauen. Diese Kriterien verraten einwissenschaftsfremdes Proporzdenken. Hinter dem Zauberwort LOM(leistungsorientierte Mittelvergabe) verbirgt sich ein zeitfressenderMoloch, der Wissenschaftler von Forschung und Lehre abhält und sie alsGutachter durch das Land jagt, um den immerwährenden Kreislauf derEvaluation aufrechtzuerhalten.

So richtig es ist, von denUniversitäten Rechenschaft für die Verwendung ihrer Gelder zu verlangenund deshalb Leistungskriterien einzuführen, so ruinös ist es, sie zuwesentlichen Kontroll- und Steuerungsinstanzen für den gesamtenUniversitätsbetrieb zu machen. Ein Wissenschaftsminister, der sich vorfünfzehn Jahren mit derartigen Neuerungsvorschlägen an dieÖffentlichkeit gewagt hätte, wäre mit höhnischem Gelächter bedachtworden. Heute jedoch gilt: „Ich bin evaluiert, also bin ich.“

Vieles,was oberflächlich betrachtet die Selbständigkeit der Universitäten zustärken scheint, etwa die eigene Dienstherreneigenschaft mit dem Rechtauf Berufung, wird durch sogenannte Zielvereinbarungen zunichtegemacht.Unter dem Deckmantel der Autonomie verengen sich Freiräume zusehends.Dennoch gibt es Versuche, die Bologna-Erklärung freier auszulegen,Diplome beizubehalten und Neues auszuprobieren. Wann bringen alleFachbereiche den Mut dazu auf?

Text: F.A.Z.